Symptom einer suchtkranken Gesellschaft?
Erstellt am 14. Oktober 2000
Diese Abhandlung wurde dem Buch "Im Zeitalter der Sucht" (dtv, isbn 3-423-35022-9) von Anne Wilson Schaef, einer weltweit bekannten Suchtexpertin, entnommen.
Der Prozeß des Dualismus
Als letzten Prozeß möchte ich Ihnen den Prozeß des Dualismus erläutern. Wenn es überhaupt einen Prozeß gibt, der sämtlichen Charakteri-stika und Prozessen des Suchtsystems zugrunde liegt, dann vermutlich dieser. Aus der dualistischen Denkweise gehen nahezu alle bisher beschriebenen Merkmale des Systems, alle soeben dargestellten Prozesse hervor.
Die meisten von uns sind im dualistischen Denken gut geschult. Unsere Erziehung läuft auf das Entweder-Oder-Prinzip hinaus - entweder dies oder das, richtig oder falsch, innen oder außen, an oder aus, schwarz oder weiß, gut oder schlecht, es läßt sich ad infinitum fortsetzen. Dieses Denken erfüllt in diesem System meines Erachtens viele Funktionen. Die wichtigste besteht darin, eine äußerst komplexe Welt grob zu vereinfachen und uns so die Illusion zu vermitteln, wir hätten die Kontrolle über etwas, was in Wirklichkeit ein sich ständig prozeßhaft entwickelndes Universum ist. Wenn wir uns der Vorstellung hingeben, wir könnten ein komplexes, facettenreiches Gebilde in zwei klare Dimensionen teilen, schüren wir damit unsere Kontrollillusion.
Dieser Prozeß schafft Situationen, die dazu führen, daß immer eine Seite als falsch bezeichnet, sobald die andere als wahr und richtig beurteilt wird. Es ähnelt dieser Mutter-Sohn-Geschichte, in der der Sohn sagt: »Ich möchte das blaue Hemd.« Und die Mutter antwortet: »Was ist los, gefällt dir das rote etwa nicht?« Haben wir einmal etwas als richtig befunden, muß das Gegenteil falsch sein - das bedeutet dualistisches Denken. Die Welt wird als ein Paar von Gegensätzen aufgefaßt. Daß beide »Gegenstücke« durchaus richtig sein können oder daß möglicherweise neben den beiden weitere Alternativen bestehen, diese Erkenntnis wird bestritten. Im Grunde genommen hält uns der Prozeß des Dualismus davon ab, Alternativen zu entwickeln oder auch nur zu berücksichtigen. Setzen sich beispielsweise weiße Frauen für ihre Befreiung ein, dann müssen sie zwangsläufig gegen die Befreiung farbiger Frauen sein - auf diese Weise wurde der Dualismus verwendet, um die Frauenbewegung zu spalten und uns voneinander zu trennen. Oder um ein weiteres Beispiel zu nennen - sobald jemand gegen die Politik der Regierung seines Landes ist, wird gefolgert, er unterstütze die des Feindes. Im Dualismus ist kein Raum für Gedanken, die unsere Auffassung als falsch erscheinen lassen und die der anderen ebenfalls. Folglich werden unsere Meinungen durch diesen Prozeß unterdrückt.
Doch wie wir gleich sehen werden, findet dieser Prozeß auf ganz unterschiedlichen Ebenen Anwendung.
Dualistisches Denken zwängt uns in Situationen, in denen wir glauben, es stünden nur zwei Möglichkeiten zur Wahl, auch wenn (und dies ist oft der Fall) eigentlich keine von beiden annehmbar ist. Auf diese Weise verhindert dieser Prozeß unsere persönliche Entwicklung und unterstützt unsere Illusion, Stabilität sei möglich, ja sogar wünschenswert.
Beispielsweise erlebe ich in meiner Praxis häufig, wie Frauen sagen:
»Soll ich meinen Mann verlassen, oder soll ich bei ihm bleiben?« Normalerweise ist zu diesem Zeitpunkt keine der beiden Alternativen empfehlenswert, und das unschlüssige Hin- und Herschwanken dieser Frauen bewirkt, daß sie in ihrer ungesunden Situation verharren und nicht in der Lage sind, überhaupt eine Entscheidung zu treffen oder andere Wahlmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Meistens fordere ich sie auf, mehrere Alternativen aufzuzählen - irgendeine ungerade Anzahl wie drei, fünf, sieben oder neun. Sobald sie dann erkannt haben, daß real nicht nur zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen, finden sie plötzlich Wege, sich ihrer Situation zu stellen, mit ihr umzugehen, sie durchzustehen (und, manchmal auch, sie zu beenden).
Verwirrung und Unentschlossenheit sind weitere Folgen dualistischen Denkens. Wir glauben, die Wahl zwischen zwei gleichermaßen unerwünschten Gegensätzen treffen zu müssen - dem unbequemen Felsblock oder dem harten Boden, der glühenden Pfanne oder dem offenen Feuer.
Natürlich bleibt das dualistische Denken auch auf der gesellschaftlichen Ebene nicht folgenlos. Entweder man ist Demokrat oder Republikaner, Christ oder Nicht-Christ, Gläubiger oder Ungläubiger, politisch auf dem richtigen Kurs oder auf dem falschen. Eine Freundin von mir ist Nonne. Irgendwann entschloß sie sich, mit uns zu leben. Mir bereitete das einiges Kopfzerbrechen, da ich nicht wußte, welche Erwartungen sie an mich stellte, und da ich als Protestantin erzogen worden war. »Meine Liebe«, bemerkte sie scherzhaft, »es gibt keine Protestanten. Es gibt die Katholiken, und es gibt die Nicht-Katholiken.« Auch diese Art der Selbstbezogenheit ist eine Folge dualistischen Denkens. Alle Formen des Dualismus verwirren uns, verstricken uns in das System und verhindern erfolgreich Veränderung und Entwicklung.
Im Lebensprozesse-System spielen solche eingeschränkten Wahlmöglichkeiten und Situationen keine Rolle, sie existieren einfach nicht, da Entscheidungen im Einklang mit dem inneren Prozeß, der persönlichen Spiritualität des einzelnen getroffen werden.
Weitere Informationen zu Anne Wilson Schaef: zu ihrem Buch "Botschaften der Urvölker" Buchbesprechung bei hausarbeiten.de |